Für eine Entwarnung besteht kein Anlass

Die globale sicherheitspolitische Lage ist nach wie vor dramatisch

20. Lilienberg Gedanken

November 2017

«Mit der Gemütlichkeit ist es vorbei: Während des Kalten Krieges drohte man mit Krieg – und heute werden in Europa Kriege geführt und völkerrechtlich anerkannte Grenzen verletzt und aufgelöst.» (Prof. Dr. Albert Stahel).

Der Welt geht es so gut wie noch nie?
«Die Welt ist viel besser als wir meinen» oder «Es geht aufwärts – Armut, Gewalt, Demokratie: Alles wird besser». Diese Titel waren unlängst in einer namhaften Zürcher Tageszeitung zu lesen. Aber auch in anderen Blättern erscheinen regelmässig ähnliche Beiträge. Sie alle stützen sich auf Statistiken über den Stand der Armut, der Bildung, der Gesundheitsvorsorge, ja der Demokratie und der Freiheit. Sie alle sind wissenschaftlich untermauert und senden folgendes Signal: Der Welt geht es so gut wie noch nie, darum besteht kein Grund für Pessimismus oder gar Angst vor der Zukunft. Ähnlich äusserte sich ein bekannter Schweizer Ex-Diplomat an einer KMU-Veranstaltung im Zürcher Oberland – nur um dann in einer sehr langen Liste anzufügen, wo überall sich weltweit Krisen- und Konfliktherde befinden und mit welchen Herausforderungen wir deshalb rechnen müssten. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich wie folgt auflösen: Die Statistiken zeigen ein Durchschnittsbild, das sich in den letzten Jahren tatsächlich verbessert hat, so dass die Aussage stimmt, dass es weltweit vielen Menschen heute besser geht als je zuvor. Die statistisch nachgewiesene Verbesserung der Lebensumstände vieler Menschen hat indessen herzlich wenig mit der Zunahme von Krisen und Konflikten zu tun. Verschiedene Länder oder Gesellschaften können trotzdem Konflikte vom Zaune reissen und zur Bedrohung werden. China beispielsweise hat punkto materiellem Lebensstandard massiv aufgeholt, benutzt aber diesen Aufschwung für die Durchsetzung ihrer Machtansprüche und bedroht damit seine Nachbarn. Lassen wir uns nicht täuschen!

Zusammenfassung
Die beiden bisherigen «Lilienberg Gedanken» zum Thema Sicherheitspolitik sind vor drei respektive zwei Jahren veröffentlicht worden (Nr. 13 «Kriege und Konflikte an Europas Grenzen», sowie Nr. 16
«An Europas Rändern herrscht das Chaos – und bei uns ist Sicherheitspolitik kein Thema!») und zeichneten ein ziemlich düsteres Bild der globalen Lage auf.
Seit der letzten Publikation vor zwei Jahren hat sich die Situation in mehrerlei Hinsicht verändert, sie ist aber überhaupt nicht besser geworden. In keinem der bisherigen Konfliktgebiete ist wirklich eine Beruhigung in Richtung Frieden eingetreten – das Gegenteil ist der Fall: Neue und teils sehr gefährliche Konflikte zeichnen sich ab. Auf den bisherigen Kriegsschauplätzen wird nach wie vor mit grosser Brutalität weitergekämpft – und dort, wo die Kämpfe beendet sind, herrscht ein derartig grosses Chaos, gepaart mit menschlichem Elend und gesellschaftlicher Zerrüttung, dass eine Befriedung oder gar Aussöhnung in absehbarer Zeit nicht vorstellbar sind. Diese Zustände führen dazu, dass sich weiterhin unzählige Menschen aus den Krisen- und Kriegsregionen aufmachen, um in Europa ihr Heil zu suchen, wo sie die europäischen Staaten und Gesellschaften vor grösste Herausforderungen stellen, die man bisher – aus politischer Korrektheit – nach wie vor herunterspielt.
Weiter verschieben sich die sicherheitspolitischen Gewichte zusehends: Die wirren Zustände, welche die amerikanische Regierung mit ihrem unbeherrschten Präsidenten Donald Trump an der Spitze verursacht hat, treiben die Supermacht immer mehr ins Chaos und geopolitisch teilweise ins Abseits. Das westliche Bündnissystem wird durch die Unzuverlässigkeit der USA auf die Probe gestellt und droht in ihren Grundfesten erschüttert zu werden, denn es sind weitere Herausforderungen zu nennen, welche dem Bündnissystem zu schaffen machen: Die hartnäckigen Spaltungsversuche Russlands, das Abdriften von Erdogans Türkei in die Arme Moskaus sowie die Schwächen der europäischen Staaten selbst, die wegen ihrer Überschuldung in mehrerlei Hinsicht ihren Handlungsspielraum verloren haben.
Profiteure dieser Entwicklung sind neben Russland, den Regionalmächten Türkei und Iran vor allem die Volksrepublik China. Dieses riesige Land verstärkt laufend seine Rüstungsanstrengungen und legt sorgfältig und mit langfristigen Zielsetzungen sein Netz aus Handelsbeziehungen und strategischen Investitionen über grosse Teile des Globus.

Die USA werden zum Unsicherheitsfaktor
Der gewichtigste Grund für die Verschiebung der sicherheitspolitischen Gewichte weg vom Westen in Richtung Russland, China und nahöstliche Regionalmächte liegt wie schon gesagt in den USA, in der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten vor gut einem Jahr. Auf sein unsägliches Getwitter und das bisher angerichtete innenpolitische Fiasko soll hier nicht eingegangen werden. Wichtig für uns sind die Signale der Unsicherheit und der Unzuverlässigkeit, die er in Richtung Europa und Nato aussendet. Es ist immer noch nicht wirklich gesichert, dass Trump im Bündnisfall der Nato beistehen würde. Glücklicherweise ist Trump im Bereich der Sicherheit und Streitkräfte von Beratern umgeben, die aus dem Militär kommen und den Krieg aus eigener Anschauung kennen.
Die globale amerikanische Position ist aber – das muss man fairerweise sagen – schon von Präsident Obama deutlich geschwächt worden. Dass die USA im Nahen Osten sehr viel Terrain verloren haben und kaum mehr eine Rolle spielen, ist auf die Fehleinschätzungen und die Unentschlossenheit von Trumps Vorgänger zurückzuführen.

Chinas Vordrängen in Asien und im Pazifik
Chinas Ambitionen, zum Hegemon in Südostasien und im Westpazifik und zu einer Weltmacht zu werden, haben sich in den vergangenen Jahren stark akzentuiert. Immer grössere Anstrengungen unternimmt die Weltwirtschaftsmacht Nummer 2 im Südchinesischen Meer, das sie als «ihr» Meer betrachtet, sowie im Westpazifik. Das wiederum weckt Ängste bei den Nachbarn Taiwan, Japan, Korea, Indien, den Philippinen, Malaysia und Vietnam – und vor allem in den USA. Weiter interessiert sich China insbesondere für die Produktionsländer von Rohstoffen, Erdöl und Lebensmitteln, namentlich in Asien, vor allem aber in Afrika und zunehmend auch in Lateinamerika.
Was die internationalen Konflikte und Krisenzonen betrifft, so fällt aber auf, dass sich das Reich der Mitte vornehm aus allem heraushält und nirgends Verantwortung übernimmt, geschweige denn sich engagiert, weder mit humanitärer Hilfe noch mit Ordnungseinsätzen – oft ganz im Gegenteil: Dort, wo es sich langfristige Vorteile erhofft, blockiert China die Anstrengungen der Weltgemeinschaft, so zum Beispiel in
Burma im Zusammenhang mit dem Rohiynga, in Syrien oder im Zusammenhang mit Nordkorea. Dafür ist das Land sehr rasch zur Stelle ist, wenn eine Region nach einem Konflikt wieder in eine gewisse Ordnung zurückgefunden hat. Dann tauchen rasch die chinesischen Investoren auf. Zu den grossen Anstrengungen Chinas ist die Neue Seidenstrasse zu nennen, welche China mit Zentralasien, dem Mittleren Osten und mit dem indischen Ozean verbinden wird.
Chinas grösster Widersacher ist neben den USA das aufstrebende Indien. Dieses bevölkerungsreiche Land Südasiens versucht sich – wie China vor zwei Jahrzehnten – in einer wirtschaftlichen Aufholjagd, aber weniger erfolgreich als sein Rivale. Indiens Rüstungsanstrengungen waren vor allem gegen den Erzfeind Pakistan gerichtet, zunehmend auch gegen China. Auch Indien ist an sicheren Seeverbindungen interessiert, sowie an der Entwicklung in Afghanistan – als Gegengewicht zu Pakistan. Dieses unter notorischer Korruption leidende Land ist sehr labil und dem starken Druck islamistischer Kräfte ausgesetzt. Seine Rolle in Afghanistan ist sehr dubios, es hat vor allem die Kontrolle seiner Westgrenze im Visier – auch wiederum mit Blick auf seine Ostgrenze zu Indien, das nach wie vor als grösste Bedrohung angesehen wird.
In Afghanistan haben die USA und die Nato ihr langjähriges und kostspieliges Engagement abgebaut und immer mehr Kompetenzen und Aufgaben der afghanischen Regierung und Armee übergeben, die sich aber als äusserst korrupt und weitgehend unfähig erweist. Die Sicherheitslage hat sich stark verschlechtert, die USA bauen ihre Truppenpräsenz langsam wieder auf, denn die Taliban erstarken immer mehr. Eine bedeutende Rolle in Afghanistan spielt der Drogenhandel. Und auch von hier aus machen sich immer mehr Menschen in Richtung Europa auf.

Nordkorea: Pokern mit Atomwaffen
Neu zu den akuten und brandgefährlichen Krisenherden ist Nordkorea gestossen. Machthaber Kim Jon Un hat seine Raketenmacht weiter ausgebaut und schiesst Raketen in den Pazifik, ja sogar über Japan hinweg. Nordkorea provoziert mit Raketen, die eine immer grössere Reichweite aufweisen. Der neuste Typ kann angeblich das Festland der USA erreichen, sicher aber amerikanische Pazifik-Territorien. Damit droht er den USA mit Krieg – und provoziert den amerikanischen Präsidenten Trump bis aufs Blut. Beide liefern sich über Twitter und andere Medien einen verbalen Schlagabtausch, der schlicht lächerlich wäre, wenn es nicht um Raketen und Atombomben ginge.
Was Kim Jon Un (der wahrscheinlich nicht so «irr» ist, wie das eine Schweizer Boulevardzeitung immer wieder schreibt,) wirklich umtreibt, ist nicht einfach zu eruieren. Wahrscheinlich geht es ihm darum, so stark zu werden, dass er von den USA als ernst zu nehmender Spieler anerkannt wird und von der Supermacht einen vorteilhaften Friedensvertrag abtrotzen kann (Der Korea-Krieg von 1950 bis 1953 ist nur mit einem Waffenstillstand beendet worden, bis jetzt noch nicht mit einem Friedensvertrag).
Möglich ist aber auch, dass er das wirtschaftlich sehr erfolgreiche Südkorea gefügig machen will, indem er es mit konventionellen Waffen bedroht und gleichzeitig mit seinen Atomsprengköpfen die USA in Schach hält. Nordkoreas konventionelle Armee ist zwar über weite Strecken veraltet, stellt aber allein durch ihre schiere Grösse und der Menge an Waffen eine gewaltige Bedrohung dar, namentlich für das sehr dicht besiedelte Südkorea. Angeblich sind 30‘000 Geschütze und Raketenwerfer in Grenznähe in Stellung gebracht worden, welche im Süden ein Blutbad grössten Ausmasses anrichten könnten.
Bis jetzt hat niemand Nordkorea Einhalt gebieten können; auch die Sanktionen, die laufend verschärft werden, führen nicht zum Ziel. Schuld daran ist vor allem China, vielleicht auch Russland. Beide Staaten spielen eine ambivalente Rolle und bieten Nordkorea immer wieder Schlupflöcher zur Umgehung der Sanktionen.
Nordkoreas Machthaber Kim Jon Un provoziert US-Präsident Donald Trump mit Raketen, die eine immer grössere Reichweite haben und droht den USA mit Krieg.

Russlands Ambitionen
Unter seinem autoritären Präsidenten Wladimir Putin versucht Russland mit allen Mitteln, das durch den Zerfall der Sowjetunion (den Putin als die «grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» bezeichnet hat) verlorene Terrain wieder gut zu machen und sein Land wieder auf Augenhöhe mit den USA zu hieven – wie es die Sowjetunion lange Jahre auch war. Zum einen hat Russland seine Streitkräfte still und unauffällig massiv modernisiert, so dass das Land teilweise über modernste Kampfflugzeuge, Panzer und Raketenwaffen verfügt. Weiter versucht Putin nach wie vor mit der Destabilisierung der Ukraine Europa unter Druck zu setzen – mit dem Ziel, das europäische Engagement in Osteuropa, also im ehemaligen Vorland Moskaus, wieder zurückzudämmen.
Eine militärisch offene Flanke hat Putin im Nordosten Europas ausgemacht, im Baltikum, das nur durch ein schmales Stück Territorium (Suwalki-Korridor) an das übrige Nato-Gebiet grenzt. Namentlich ausgebaut hat Russland seine militärischen Kapazitäten in der Enklave Kaliningrad, wo sehr potente Mittelstreckenraketen und Luftabwehrwaffen stationiert wurden, die jedes Eingreifen der Nato im Baltikum behindern, wenn nicht verunmöglichen würden.
Erfolgreich war Russland in den vergangenen zwei Jahren in Syrien, wo es nicht nur Fuss gefasst, sondern Assad gerettet hat. Mit massiver russischer Hilfe drängten hier Assads Truppen, die vor zwei Jahren vor dem Aus gestanden waren, die verschiedenen Rebellengruppen an vielen Fronten zurück, unter anderem den Islamischen Staat, der von allen Seiten unter Druck geriet (siehe separates Kapitel). Weiter scheinen Putins Bemühungen, auch in Libyen ins Geschäft zu kommen, erfolgreich zu sein. Früher als der Westen setzte er auf die Karte von General Chalifa Haftar.
Der Vollständigkeit halber muss hier noch erwähnt werden, dass sich im Bereich des Nordpols neue Konflikte um Bodenschätze und Schifffahrtsrouten abzeichnen, die wegen der Klimaerwärmung erreichbar oder längere Zeit befahrbar werden.

Hotspot Naher Osten
Der Nahe Osten ist nach wie vor der globale Hotspot schlechthin: Hier toben weiterhin verschiedene brutale Kriege, verbunden mit unzähligen Terroranschlägen, Massakern und Vertreibungen. Im Nahen Osten schneiden sich verschiedene grosse, regionale, ja globale sowie viele kleine Konfliktlinien, was die Lage so unübersichtlich macht. Diese Konfliktlinien haben den klassischen Nahostkonflikt zwischen Israel und den Arabern längst abgelöst, ohne dass dieser aber zu einem Ende gekommen wäre.
Die grossen Rivalen im Nahen Osten sind zum einen das schiitische Iran und zum andern das sunnitische Saudiarabien. Auf Seiten der Saudis stehen die übrigen Golfstaaten, Jordanien, Ägypten, aber auch die Türkei, während die Iraner mit Assads Syrien, den libanesischen Hisbollah und der Hamas im Gaza-
streifen verbunden sind, sowie mit den Russen in Syrien. Dieser Konflikt tobt sich im syrischen Bürgerkrieg aus. Von praktisch allen Seiten in die Zange genommen, hat der Islamische Staat (IS) massiv an Boden verloren und steht vor dem Ende als «Staat». In zähen und selbstmörderischen Kämpfen verteidigt der IS seine letzten Positionen, wobei er rücksichtslos die Zivilbevölkerung als Schutzschilde einsetzt. Viele ausländische Dschihadisten sind umgekommen, andere befinden sich in Gefangenschaft, weitere kehren nach Europa zurück, wo sie die Terroristenszene verstärken dürften. Und: Was bedeutet der Wegfall des einzigen gemeinsamen Feindes für die Region? Beruhigung oder neue Konflikte?
Eine Folge der Rivalität am Golf ist der zerstörerische Krieg in Jemen, den Saudiarabien und einige Golfstaaten dort führen, um den angeblichen iranischen Einfluss einzudämmen. Die Zerstörungen führen zu einer humanitären Grosskatastrophe mit unabsehbaren Folgen und vielen Flüchtlingen.

Die Türkei driftet aus dem westlichen Lager weg
Zu den Verschiebungen der sicherheitspolitischen Gewichte gehört das Wegdriften der Türkei aus dem westlichen Bündnissystem. Der autoritäre Erdogan hat den dilettantischen Putschversuch im Juli 2016 von Teilen der Streitkräfte dazu benutzt, um anhand von Listen, die lange vorher vorbereitet worden waren, eine beispiellose Säuberung in der Armee, der Polizei, der Justiz, der Lehrerschaft und im Beamtenapparat durchzuführen. Dieser Aderlass in der türkischen Elite und staatstragenden Schicht stellt eine beispiellose Verarmung der Türkei dar, öffnet aber für Erdogan die Möglichkeit, seine Vorstellungen eines islamisch orientierten und an das Osmanische Reich erinnernden Staates umzusetzen. Dies bedeutet eine Abkehr von Europa und eine Hinwendung zu Russland, von dem es beispielsweise ein Raketenabwehrsystem kaufen möchte. Noch ist die Türkei Mitglied der Nato; es fragt sich nur, für wie lange! Die Türkei ist auch aktiv in den syrischen Bürgerkrieg verwickelt. Das alte Ziel, Assad zu stürzen, hat Erdogan stillschweigend aufgegeben, stattdessen hat er die dortigen Kurden, die sich auch ein eigenes staatliches Gebilde geschaffen haben, ins Visier genommen.

Kurdistan: ein neuer Konflikt zeichnet sich ab
Ein neuer Konfliktherd tut sich im Nahen Osten mit Kurdistan auf: Die Regierung der autonomen Region Kurdistan im Norden Iraks führte Ende September ein Referendum über die Gründung eines neuen kurdischen Nationalstaates durch. Erwartungsgemäss stimmte ein grosser Teil der Urnengänger diesem Ansinnen zu. So verständlich und nachvollziehbar dieser Wunsch nach einem eigenen Staat angesichts der jahrhundertelangen Leidensgeschichte der Kurden auch ist, so problematisch ist dieser Schritt: Schlagartig bringt er praktisch alle Nachbarn gegen dieses
autonome Gebilde auf und schürt im Inneren neue Konflikte. Zum Letzteren: Das Gebiet, das die kurdische Autonomieregierung für sich beansprucht, ist bevölkerungsmässig alles andere als homogen. Namhafte Bevölkerungsteile sind Araber oder gehören dem Volksstamm der Turkmenen an, ihre Begeisterung hält sich daher in sehr engen Grenzen.
Weiter ruft der Wunsch nach einem eigenen Staat die irakische Zentralregierung auf den Plan, die vor allem die Erdölgebiete rund um Kirkuk behalten will. Zudem hat das Referendum heftige Reaktionen bei traditionellen Gegnern der Kurden, bei den Türken, ausgelöst, welche keinen unabhängigen kurdischen Nationalstaat dulden wollen – wegen der eigenen Kurden, mit denen Ankara seit Jahrzehnten im Konflikt oder im Krieg steht. Auch Iran hat keine Freude an diesen Vorstellungen, da es einerseits mit dem Irak verbündet ist und andererseits durch ein unabhängiges Kurdistan nicht mehr direkt an seinen Verbündeten Syrien grenzt. Die Gefahr eines neuen Krieges ist sehr gross. Die Verlierer stehen schon fest: Es werden erneut die Kurden sein, die damit auch ihren jetzigen Status, den sie erfolgreich für den Aufbau eines gut funktionierenden Gemeinwesens genutzt haben, wieder verlieren werden – auf unabsehbare Zeit.

Unruhezone Nordafrika und Sahel
In Afrika selber gibt es zwei wirtschaftlich recht starke Staaten, Nigeria und Südafrika, die aber geopolitisch kaum eine Rolle spielen, vor allem, weil sie innerlich geschwächt und von Korruption zersetzt sind. Im Norden Afrikas sind Marokko, Algerien und Tunesien als noch einigermassen stabil zu bezeichnen. Tunesien ist übrigens das einzige Land, das die Errungenschaften des arabischen Frühlings in die Gegenwart retten konnte – aber dabei von Islamisten bedroht wird. Auch in Libyen stabilisiert sich die Lage allmählich – unter der Führung von Chalifa Haftar, der immer grössere Teile des Landes kontrolliert. In der Sahelzone selber ist ein praktisch rechtsfreier Raum entstanden, in dem sich Banditen, Menschenhändler, Islamisten und Tuareg-Rebellen tummeln und jede Sicherheit verunmöglichen. Die Brutalsten unter ihnen sind die Boko Haram, welche mit grausamen Aktionen die Region in ein islamistisches Mittelalter zurückmorden wollen. Ziele ihrer Angriffe sind vor allem Frauen, denen sie jegliche Rechte verwehren.
Gerade in der Sahelzone verdichtet sich eine Entwicklung, die vielerorts bereits Wirklichkeit geworden ist, nämlich die Vermischung von Terrorismus und organisierter Kriminalität auf der Basis des Drogen- und Menschenhandels. Was man vor allem aus Kolumbien kennt, wird auch in der Sahelzone und in anderen afrikanischen Staaten Wirklichkeit: Die Grenze zwischen politisch oder religiös motiviertem Terrorismus, Banditentum und organisierter Kriminalität wird immer fliessender. Die Islamisten haben erkannt, dass sie am florierenden Sahara-Transithandel mit Drogen und Menschen gut verdienen können, das sie wiederum für den Erwerb von Waffen verwenden.

Drogen als Schatten über Nord- und Südamerika
Gerade das Drogenproblem und die organisierte Kriminalität, gepaart mit simplem Banditentum, machen einem Kontinent zu schaffen, der seit vielen Jahren aus dem geopolitischen Radar verschwunden ist, da es dort seit Jahrzehnten zu keinen zwischenstaatlichen Kriegen mehr gekommen ist, nämlich Lateinamerika. Auch die verschiedenen Guerillakriege erloschen im Laufe der Jahre mit Ausnahme von jenem in Kolumbien. Hier hatte sich die linke Guerilla längst dem Drogenhandel und der Entführungsindustrie verschrieben und kontrollierte weite Landstriche. Die energischen Offensiven einer modernisierten und gut geführten kolumbianischen Armee setzten den Guerilleros so stark zu, dass sie vor kurzem einen Friedensvertrag mit der Regierung abschlossen. Doch damit ist der Drogenhandel nicht zu Ende. Andere Banden und abtrünnige Guerilleros haben ihn übernommen. Namentlich am Oberlauf des Amazonas-Flusssystems zwischen Kolumbien, Ecuador, Peru und Brasilien blüht der Handel ungehindert weiter. Ganze Landstriche werden von der Drogenmafia beherrscht. Ein weiteres Drogenland ist Mexiko, wo die Kartelle über eine grosse Macht verfügen und staatliche Stellen unterwandern. Die Drogen aus dem Amazonasgebiet überschwemmen Europa, während über Mexiko der amerikanische Markt beliefert wird, auf dem aber immer mehr synthetische Drogen wie das Fentanyl auftauchen, welche ungemein gefährlicher sind als die Opiate. In den USA ist das Drogenproblem so gross wie noch nie!
Der Drogenhandel hat verschiedene Auswirkungen: Der Konsum von Drogen zerstört viele einzelne Menschen, der Handel mit Drogen ganze Gesellschaften. Das viele Geld, das damit umgesetzt wird, infiziert und korrumpiert die Institutionen und Führungsschichten vieler Staaten. Weiter herrschen in weiten Landstrichen Kolumbiens und Mexikos die Drogenkartelle fast ungehindert und nagen damit an den Grundfesten der ohnehin nicht sehr stabilen Staaten.
Die Vermischung von Terrorismus und organisierter Kriminalität auf der Basis des Drogen- und Menschenhandels ist vielerorts Wirklichkeit geworden – etwa in Kolumbien, in der Sahelzone und anderen afrikanischen Staaten.

Cyberrisiken
Ein grosses Destabilisierungspotenzial bilden die Kombination von Digitalisierung und Globalisierung. Immer mehr Bereiche des Lebens und der Wirtschaft werden vernetzt, immer mehr Daten werden gesammelt. Das bringt einerseits zahlreiche Vorteile und Chancen, generiert aber sehr viele Risiken und Gefahren, auf die hier nur rudimentär eingegangen werden kann. Die Gefahr von Cyberattacken und Erpressungsversuchen gegen vitale Infrastrukturanlagen ist enorm gross, wie auch die Versuchung zur Manipulation von Wählern und Demokratien. Für diktatorische und autoritäre Regimes bietet die Digitalisierung mit Big Data enorme Möglichkeiten, die Bevölkerung zu kontrollieren und zu manipulieren, vor allem wenn dies mit Heilsversprechen und utopischem Fortschrittsglaube verbunden wird.
Demographische Zeitbombe und Umweltschäden
Eine meist völlig unterschätzt Ursache, welche aber zu einer Verstärkung von Konflikten führt, ist das demographische Wachstum. Diese Konflikte gehen häufig mit der Plünderung der Ressourcen, der Zerstörung der natürlichen Umwelt sowie dem Klimawandel einher, wie mit der Austrocknung ganzer Regionen, der Versteppung fruchtbarer Gebiete etc.
Oft ist gerade in diesen Regionen das Bevölkerungswachstum infolge Armut und Bildungsferne so gross, dass immer weniger Menschen vor Ort ein Auskommen finden. Befinden sich diese Staaten zudem noch im Sog gewisser Religionen oder einschlägiger kultureller Traditionen, so kann ein hochexplosives Gemisch von Überbevölkerung, Armut, Arbeitslosigkeit und – last but not least – sexuellen Frustrationen entstehen, das rasch in Aggression und Gewalt münden kann – oder eben in die Migration Hunderttausender Menschen, vorwiegend aber junger Männer. Es fällt auf, dass es vor allem arabisch-islamische Regionen sind, in denen dieses Gemisch besonders explosiv erscheint – es ist notabene auch dieser Raum, in welchem die grössten und blutigsten Konflikte stattfinden. Massgeblich beteiligt am Bevölkerungswachstum ist der Krisenkontinent Afrika, wo die Geburtenrate – im Gegensatz zu fast allen Regionen der Welt – nicht wesentlich zurückgegangen ist und die Bevölkerung sehr rasch ansteigt.

Migration und Terrorismus
Was wir in den vergangenen Jahren in Europa erlebt haben, könnte nur das Vorspiel zu einer weit grösseren Migrationsbewegung sein («noch wandern Afrika und Pakistan nicht wirklich…»): Hunderte von Millionen Menschen leben weltweit unter so prekären Bedingungen, dass für sie eine Auswanderung nach Europa verlockend sein muss, zumal die «Willkommenskultur» völlig falsche Signale setzt.
Man wird sich in Europa nur sehr zögerlich bewusst, dass dieser Flüchtlingsstrom das grösste Destabilisierungspotenzial seit dem Zweiten Weltkrieg hat. Wenn Hunderttausende von schlecht ausgebildeten Menschen – und vor allem junger Männer – aus einer fremden Kultur plötzlich in unseren durchorganisierten Sozialstaaten landen, dann kann es rasch äusserst schwierig und kostspielig werden, für die ganze Gesellschaft, vor allem aber für jene Europäer, die heute schon im Prekariat leben und Angst davor haben, von den Migranten beispielsweise bei der Verteilung der wenigen anspruchsvollen Arbeitsplätze konkurrenziert zu werden. Auch für die Sicherheitsbehörden eines jeden Landes wird es dramatisch: Wie viele Islamisten und potenzielle Terroristen zum Beispiel lassen sich mit den Flüchtlingen einschleusen? Und welchen Einfluss üben die Migranten aus islamischen Staaten (die grösste Mehrheit) auf die hiesigen islamischen Gemeinschaften aus? Es ist damit zu rechnen, dass diese durch die Einwanderung eher radikalisiert, denn gemässigt werden. Interessanterweise sind es vor allem linke Kreise – darunter auch Feministinnen – welche die Probleme mit muslimischen Einwanderern herunterspielen und lieber die angebliche Fremdenfeindlichkeit der heisigen Bevölkerung denn die Frauenfeindlichkeit der Islamisten aufs Korn nehmen. Kurz: Die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus ist noch lange nicht gebannt. Dass es immer wieder zu Anschlägen kommen kann, ist gewiss, unsicher ist nur wann, wie und wo.

Und was bitte hat das alles mit der Schweiz zu tun?
Und was hat denn das alles mit uns in der Schweiz zu tun? Das Besondere an dieser Frage ist aber nicht die Feststellung, dass sie nicht auf Anhieb zu beantworten ist, sondern dass sie kaum jemand in unserem Land stellt – deshalb erwartet auch niemand eine Antwort darauf: Sicherheit und Sicherheitspolitik sind in der Schweiz seit langem kein Thema und dürften es in nächster Zeit noch eine Weile nicht werden, wenn man die Bevölkerung nicht aufklärt!
Digitalisierung und Globalisierung bringen zwar viele Vorteile und Chancen – allerdings nimmt auch die Gefahr von Cyberattacken gegen Infrastrukturanlagen stetig zu.

Wir müssen uns auf eine Vielzahl von Bedrohungen vorbereiten
Allerdings muss man einräumen, dass es nicht einfach ist, sofort und ohne weiteres die möglichen Folgen der vielen Krisen und Konflikte für die Schweiz aufzuzählen. Im Vordergrund stehen zweifellos die Flüchtlingsströme, die auch unserem Land zunehmend zu schaffen machen werden. Weiter steigt die Gefahr von islamistischen Terroranschlägen durch «Schweizer» Syrien-Rückkehrer. Die internationale Lage kann sich sehr rasch verschlechtern und instabil werden, so dass eine verstärkte Überwachung des Luftraumes notwendig wird: Man übersieht die Tatsache, dass der Luftraum über der Schweiz zu den dichtest beflogenen der Welt gehört. Unabsehbare Auswirkungen können vor allem multiple Krisen haben, zum Beispiel Terroranschläge auf wichtige Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen, die das moderne Leben lahmlegen würden. In solchen Situation braucht die Landesregierung ein starkes und modernes Instrument, nämlich die Armee, die für alle möglichen Einsätze zugunsten der zivilen Stellen vorbereitet und gerüstet sein muss. Schliesslich darf nicht vergessen werden, dass sich die Schweiz inmitten von Europa befindet und damit direkt oder indirekt in Konflikte einbezogen werden kann, welche andere europäische Staaten betreffen. Wenn nun die Schweiz keine glaubwürdige Armee besitzt, so führt das zu einem gefährlichen Machtvakuum im Zentrum des Kontinents. Die Schweiz würde sich dadurch selber schwächen und erpressbar machen.
Da wir nach wie vor im tiefsten Frieden leben, fühlt sich die breite Bevölkerung von diesen Überlegungen nicht betroffen – so auch die wenigsten Politiker. Man hat sich derart an ein rundum abgesichertes Leben gewöhnt, dass sehr viele Menschen nicht einmal daran denken, dieses Selbstverständnis zu hinterfragen und dem Wesen Sicherheit nachzuspüren. Am ehesten noch ist Sicherheit in den Bereichen Kriminalität, Strassenverkehr oder Freizeit ein Thema – hier aber teilweise in extremem Ausmass. Daher ist es nicht erstaunlich, dass Sicherheitspolitik im engen Sinne kaum interessiert – entsprechend gering bis nicht-existent sind die Kenntnisse darüber. Ja, auch die Möglichkeit, dass eine schlechte Sicherheitslage die von allen Menschen hochgehaltenen Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung gefährden könnte, kümmert die wenigsten wirklich, da das Leben in Sicherheit so selbstverständlich geworden ist wie das tägliche Brot auf dem Tisch.

Pazifisten kontra «Kriegstreiber»
Neben dieser Gleichgültigkeit spielt jene Grundhaltung eine wichtige Rolle, welche all jene, die sich um Sicherheit kümmern und sich auf alle Eventualitäten vorbereiten, entweder lächerlich macht oder in die Ecke des Bösen und Schlechten stellt. Zu den ersten gehören beispielsweise diejenigen, welche neunmalklug vorrechnen, dass die Chance, einem Terrorangriff zum Opfer zu fallen, geringer ist als von einer Biene tot gestochen zu werden. Bedenklicher als dieser Unsinn ist aber der latente moralisch aufgeladene Pazifismus: Hier die «Guten», die Armeekritiker, die für Frieden sind und dort die «Schlechten», die Armeebefürworter, die Krieg wollen. Und dass es heute so einfach geworden ist, den Zivildienst zu wählen, macht die Sache auch nicht besser. Was ist zu tun?

  • Wir müssen Bevölkerung und Politik umfassend informieren mit der Stossrichtung, dass Sicherheit nichts Selbstverständliches ist, sondern immer wieder erarbeitet und durch verschiedene Organe und Stellen aufrechterhalten werden muss.
  • Wir brauchen eine grosse sicherheitspolitische Debatte in unserem Land.
  • Wir müssen ein Argumentarium erstellen.
  • Wir müssen die Frauen und die Jungen besser und richtig ansprechen.

«Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit, und ohne Freiheit keine blühende Wirtschaft. Ohne blühende Wirtschaft gibt es keinen Wohlstand, aber auch keine Wohlfahrt. Ergo: Wohlstand und Wohlfahrt brauchen Sicherheit!»

Dieses Credo ist die Leitlinie für das Engagement des Lilienberg Unternehmerforums in Sachen Sicherheitspolitik und Armee. Seit seinem Bestehen setzt sich Lilienberg für eine glaubwürdige Sicherheitspolitik und eine starke Armee ein. Seit einigen Jahren hat sich Lilienberg als unabhängige und gut vernetzte Plattform für die Sicherheitspolitik der Schweiz etabliert und verschiedene starke Impulse an VBS, Politik und Öffentlichkeit ausgesandt. Lilienberg arbeitet seit einigen Jahren auf eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Milizorganisationen und dem VBS hin und unternimmt grosse Anstrengungen, eine sicherheitspolitische Debatte in der Schweiz anzustossen sowie die Information von Politik und Bevölkerung in diesem Bereich zu verbessern.
Lilienberg ist die einzige rein zivile Institution, die erkannt hat, dass diesbezüglich ganzheitlich vorgegangen werden muss. Wichtige Publikationen waren «Welche Luftverteidigung braucht die Schweiz?»
(November 2016) und «Herausforderung neues Kampfflugzeug für die Schweiz» (Mai 2017). Die jüngsten personellen Veränderungen an der Spitze des VBS und der Armee lassen ernsthaft darauf hoffen, dass diese Impulse des Lilienberg endlich Anklang finden und Wirkung erzielen.

«Uns geht es viel zu gut… »
«Wir ertrinken im Wohlstand» oder «Uns geht es viel zu gut» und sogar: «Die Jungen haben eben keinen Krieg erlebt ». Solche und ähnliche Aussagen hört man zu Hauf, wenn – vor allem mit älteren Zeitgenossen – über Sicherheitspolitik und Armee diskutiert und über das Unverständnis der jüngeren Generationen zu diesen Themen lamentiert wird. Manchmal gipfeln diese Diskussionen in der unglaublichen Aussage «Die Jungen müssten einmal einen Krieg erleben….. ». Diese Art von Diskussionen mit Vertretern einer Generation, die von sich behauptet, die Kriegszeit erlebt zu haben, ist gelinde gesagt abstossend.
Natürlich trifft diese Aussage für sich bezogen zu. Doch daraus den jüngeren Menschen unseres Landes einen Vorwurf zu machen, ja ihnen fast wieder schlimme Zeiten zu wünschen, ist schlicht inakzeptabel und führt nicht weiter: Welches sind die wichtigsten Ziele eines Landes? Die Bewahrung von Sicherheit, Friede, Freiheit und Wohlstand! Dies erreicht zu haben, ist zweifellos das Verdienst aller Generationen unseres Landes, namentlich auch der älteren. Dass aber die Jungen in dieser Situation leben und sich ein anderes Leben schlicht nicht vorstellen können, darf Ihnen nicht angekreidet werden.
Wenn man hier jemanden kritisieren muss, dann sind es die Verantwortlichen in VBS und in den armeefreundlichen Organisationen, die es in den letzten zwei Jahrzehnten versäumt hatten, ernsthafte Aufklärung zu betreiben. Hier muss der Hebel angesetzt werden, statt unseren jungen Mitmenschen unsichere und schwierige Zeiten zu wünschen…!

Text
Christoph Vollenweider

Leiter Programm und Publikationen
Lektorat/Layout/Bildauswahl
Daniel Anderes und Stefan Bachofen

Herausgeberin
Lilienberg Unternehmerforum
CH-8272 Ermatingen